2012 erschien der erste Bildungsbericht des Ruhrgebiets. Damit begann die Bildungsberichterstattung für eine ganze Region – eine ehemalige Bergbauregion. Kurz darauf wurde die Bildungsinitiative RuhrFutur gegründet. Mit dem Ansatz von Datentransparenz, Vernetzung und gemeinsamem Handeln ist RuhrFutur deutschlandweit beispielhaft in der Bildungsberichterstattung. Auch im Mitteldeutschen Revier planen wir ein Bildungsmonitoring für eine ganze Region. Wir sprachen mit Dr. Markus Küpker, dem Leiter des Handlungsfelds "Daten & Analyse" bei RuhrFutur, über die Herausforderungen und Chancen eines regionalen Bildungsmonitorings.
Herr Dr. Küpker, Sie haben uns im Aufbau eines regionalen Bildungsmonitorings schon einiges voraus. Wir stehen im Mitteldeutschen Revier erst am Anfang. Wenn Sie auf Ihre Arbeit zurückblicken, was ist gerade zu Beginn besonders wichtig?
Der erste Bildungsbericht des Ruhrgebiets wurde 2012 veröffentlicht, verfasst von einem wissenschaftlichen Konsortium mit viel Erfahrung und Expertise und herausgegeben vom Regionalverband Ruhr (RVR). Er orientierte sich bereits an den Etappen der gesamten Bildungsbiografie und enthielt viele Daten direkt von den Kommunen. Der Bildungsbericht hinterließ großen Eindruck und hat gezeigt, welche Herausforderungen, aber auch Chancen mit der gesamten Region und ihrer Bildungslandschaft verbunden sind. Mit dem Ruhrparlament hat auch die politische Ebene ihre Schlüsse gezogen: Das Ruhrgebiet braucht ein regionales Bildungsmonitoring.
Wie ging es dann weiter?
Beim RVR haben sich nach der Veröffentlichung 2012 neue Strukturen gebildet. So entstand beispielsweise die AG Bildungsmonitoring. 2013 wurde RuhrFutur gegründet, eine Bildungsinitiative, in der sich fünf kreisfreie Städte, ein Kreis, sieben Hochschulen, der Regionalverband Ruhr, das Land Nordrhein-Westfalen und die Stiftung Mercator gemeinsam für ein leistungsfähigeres Bildungssystem einsetzen. Bei der Geschäftsstelle der Initiative, der RuhrFutur gGmbH, handelt es sich um eine gemeinnützige zivilgesellschaftliche Institution.
Wir von RuhrFutur nahmen an der AG Bildungsmonitoring des RVR teil und haben uns stark in die Organisation des zweiten Bildungsberichts eingebracht. Aus dem ersten Bericht hatten wir gelernt: Wir müssen diejenigen mehr einbinden, für die der Bericht auch geschrieben wird. Darum war es uns wichtig, mehrere Ebenen der Kommunen einzubeziehen, die operativen und leitenden Ebenen gleichermaßen. Wir übernahmen mit der Zeit eine stärkere organisatorische Rolle und setzten uns stark für einen partizipativen Erarbeitungsprozess ein. Das bedeutete: straffe Zeitschienen, aber auch genug Raum für Austausch.
2020 erschien der zweite Bildungsbericht Ruhr. Darin zeichnen Sie neben den Rahmenbedingungen die Entwicklungen aller Phasen einer Bildungsbiografie nach, von der frühen Bildung bis zu Angeboten der Weiterbildung. Welchen Vorteil bietet das und welcher Mehrwert ergibt sich daraus für die regionale Ebene?
Bereits der erste Bildungsbericht hat sich an der Bildungsbiografie ausgerichtet. Wir wollten mit dem zweiten Bericht unbedingt an diese Ergebnisse anknüpfen. Es geht um das „Big Picture“: Bildungsprozesse hängen miteinander zusammen. Wenn man diese abbilden möchte, braucht man alle Etappen, aber auch die Rahmenbedingungen.
Hier ein Beispiel: Das Ruhrgebiet weist als Metropolregion eine der niedrigsten Frauenerwerbsquoten in Deutschland auf. Zugleich spielt Armut eine große Rolle, von der vor allem Kinder und ein großer Teil der Alleinerziehenden – meist Frauen – betroffen sind. Möchte man daran etwas ändern, dann kann auch das Angebot an U3-Plätzen als ein Hebel eine Rolle spielen. Zugleich weiß man, dass vor allem Kinder aus sozial schwierigen Verhältnissen von einer längeren Kita-Aufenthaltsdauer besonders stark profitieren.
Die wirtschaftliche und soziale Lage ist also auch ein Bildungsthema, anders herum sind ein chancengerechtes und leistungsfähiges Bildungssystem wirtschaftlich und sozial relevant.
Wichtige Funktion des Bildungsberichts ist es, das gewonnene Wissen an die Entscheidungsträger im Bildungsbereich weiterzutragen; die kommunale Politik hat hier sicherlich eine zentrale Position, da die Kommunen in den meisten Bildungsbereichen zu den wichtigsten Akteuren zählen. Die Kommunen sind nicht nur als Träger von Bildungseinrichtungen relevant, sondern in der Politik werden auch wichtige Investitionsentscheidungen getroffen, die sich auf die Qualität und den Umfang von Bildungsangeboten auswirken. Im Ruhrgebiet kommt jedoch hinzu, dass kommunale Herausforderungen oftmals regionale Herausforderungen sind und daher auch regionale Lösungsansätze eine Option sein könnten. Das möchte das regionale Bildungsmonitoring unterstützen.
Wie das Mitteldeutsche Revier ist auch das Ruhrgebiet durch einen vorangegangenen Strukturwandel geprägt. Welche Entwicklungen in der Bildungslandschaft sind in diesem Zusammenhang über die kontinuierliche datenbasierte Betrachtung besonders sichtbar geworden?
Man denkt beim Ruhrgebiet, dass der Strukturwandel bereits abgeschlossen ist, denn Bergbau gibt es nicht mehr. Anhand der Daten wird aber deutlich: Der Prozess geht weiter. Der Rückgang von Arbeitsplätzen in der Industrie bei gleichzeitigem Wachsen des Dienstleistungssektors ist immer noch ein großes Thema.
Als wir das Kapitel der Rahmenbedingungen im zweiten Bericht zu Gesicht bekamen, erschraken wir zunächst. Wir haben für die Darstellung zwei Betrachtungszeiträume miteinander verglichen, die Jahre 2012 und 2019. Traurig war die Erkenntnis, dass Armut im Ruhrgebiet in dieser Zeit gestiegen ist.
Die gewonnene Datenlage ermöglichte uns Rückschlüsse auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der gesamten Region: Von den Gunstphasen im letzten Jahrzehnt konnte das Ruhrgebiet weniger profitieren als andere Regionen. In den Krisenzeiten erweist es sich dagegen als besonders vulnerabel. Nur die Betrachtung über einen langen Zeitraum und der Vergleich mit anderen Regionen ermöglichen solche Erkenntnisse.
Welche Zusammenhänge in der regionalen Bildungslandschaft konnten Sie im interkommunalen Vergleich feststellen?
Bei der Bildungsmobilität erkennt man die vernetzten Strukturen besonders deutlich. Bildungsteilnehmende bewegen sich interkommunal im Ruhrgebiet, eine Zusammenarbeit liegt da natürlich sehr nah. Mit dem Bildungsbericht 2012 sind wir bereits ein Stück weit vom Kirchturmdenken weggekommen und haben Strukturen des Austauschs und der Zusammenarbeit geschaffen. Dieser Fachaustausch ist wertvoll, da man sich über Herausforderungen beispielsweise bei der Datenbeschaffung Tipps geben kann. Es bietet außerdem die Chance, sich auf Qualitätsmerkmale der Bildungsberichterstattung zu verständigen.
Im Bildungsbericht Ruhr 2020 haben Sie anhand der Ergebnisse Handlungsempfehlungen abgeleitet. Wie werden diese Handlungsempfehlungen nun angegangen?
Es ist immer eine Grundsatzentscheidung in der Berichterstattung, ob Handlungsempfehlungen ausgesprochen werden oder nicht. Wir haben uns entschieden, allgemeine Empfehlungen und Handlungsfelder zu benennen. Hier ein Beispiel: Der Anteil der Bevölkerung, die zu Hause nicht die deutsche Sprache spricht, hat im Ruhrgebiet zugenommen. Es gibt offenbar auch eine wachsende Zahl von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die nach der statistischen Definition zwar keine Zuwanderungsgeschichte haben, aber in Familien leben, in denen noch immer nicht deutsch gesprochen wird. Zudem zeigt sich beispielsweise am Übergang von der Kita in die Schule, dass viele Kinder keine altersgerechte Sprachkompetenz aufweisen – ein Phänomen, dass keineswegs nur mit einer Zuwanderungsgeschichte, sondern auch stark mit der Bildungsherkunft verknüpft ist. Wir schließen daraus, dass Sprachentwicklung ein übergreifendes Thema ist, dass wir entlang der Bildungsbiografie mehr Konzepte und Programme für eine durchgehende Sprachentwicklung benötigen. Diese Handlungsempfehlung können wir aus unseren Daten ableiten und benennen.
Handlungsempfehlungen haben außerdem einen starken kommunikativen Mehrwert, denn sie werden diskutiert. Aktuell sind wir im Ruhrgebiet unterwegs, stellen den Bericht vor und diskutieren vor Ort darüber. Wichtig ist herauszufinden, wie man gemeinsam ins Handeln kommen kann.
Wie wird RuhrFutur mit der Berichterstattung zum regionalen Bildungsmonitoring fortfahren?
Monitoring und Bildungsberichterstattung werden fortgesetzt und sowohl auf unserer umfangreichen digitalen Präsenz als auch in Papierform veröffentlicht. Wir arbeiten momentan an einem Corona-Update des Bildungsberichts 2020. Die Corona-Situation spielt auch eine wichtige Rolle in der demnächst stattfindenden Hochschulbefragung. Sie bezieht Themen wie Digitalisierungskompetenzen und Stipendienkultur ein.
Auch die enge Zusammenarbeit mit dem RVR und den Kommunen geht in der AG Bildungsmonitoring weiter. Wir haben parallell zum Bildungsbericht eine digitale Kollaborationsplattform für das Monitoring entwickelt, mit der wir in der finalen Entwicklungsphase sind. Diese Plattform versetzt uns in die Lage, künftig mit Kommunen konkrete Berichte zu erarbeiten. Kommunen werden die Möglichkeit haben, dort eigene Daten einzupflegen. Sowohl wir als auch die Kommunen werden daraus Berichte erstellen können.
An RuhrFutur wird deutlich, dass Empirie Prozesse transparent macht und bei Politik, Verwaltung und Gesellschaft viel bewirken kann!
Das Interview mit Dr. Markus Küpker führte Carolin Jäckel.