Berufliche Orientierung und die Dimensionen des Strukturwandels

Der Strukturwandel führt zu Veränderungen in den Lebens- und Arbeitswelten. Beim Übergang von der Schule in den Beruf stehen junge Menschen vor der Entscheidung, welche Richtung sie im Erwerbsleben einschlagen wollen. Doch was genau wird dabei eigentlich durch den Strukturwandel beeinflusst?

Auszubildende sind aktuell auf dem Ausbildungsmarkt sehr begehrt. Wir möchten erfahren, wie junge Menschen sich für einen Ausbildungsweg entscheiden und welche Rolle der Strukturwandel in diesem Prozess spielt.

Gleich vorweg: Auf die Frage, ob sich die Berufswahl heute einfacher oder schwerer gestaltet als vor zehn oder zwanzig Jahren, gibt es keine eindeutige Antwort. Auf der einen Seite ist es heute einfacher, einen Ausbildungsplatz zu finden. Gleichzeitig ist es schwieriger, sich für den richtigen Ausbildungsplatz zu entscheiden. Der Strukturwandel ist an dieser Entwicklung nicht ganz unbeteiligt.

Doch der Reihe nach. Der Strukturwandel wird durch drei Dimensionen geprägt. Wie im Werkstattbericht „Strukturwandel und Bildung“ des Kompetenzzentrums Bildung im Strukturwandel beschrieben, handelt es sich bei diesen Dimensionen um die Dekarbonisierung, die Digitalisierung sowie den demografischen Wandel. Doch haben alle Dimensionen einen Effekt auf die Berufsorientierung?
 

Dekarbonisierung: neue Arbeitswelten – bekannte Qualifikationen?

Die Dekarbonisierung, also die Abkehr von der Nutzung fossiler Rohstoffe zur erneuerbaren Energiegewinnung, geht mit veränderten Arbeitskräftebedarfen in sich verändernden Branchen einher. Dabei bleibt die Relevanz der Energiewirtschaft weiterhin hoch. Nicht zuletzt die Tagebaubetreiber MIBRAG und LEAG suchen zukünftige Geschäftsfelder in den erneuerbaren Energien. Selbst wenn dabei weniger Personal gebunden wird, werden die von ihnen weiterhin ausgebildeten Fachkräfte (beispielsweise Industriemechaniker/-innen, Fachinformatiker/-innen, Elektroniker/-innen) am Arbeitsmarkt langfristig auf Nachfrage stoßen.

Auch grundsätzlich zeigt der Blick auf die Arbeitsmarktstatistik, dass sich die Top Ten der angebotenen Ausbildungsberufe in den letzten Jahren kaum verändert hat. Ein Szenario, dass bestimmte Berufsbilder und Ausbildungsgänge künftig nicht mehr gefragt sein werden oder gänzlich neue Berufe entstehen, ist daher nicht unbedingt zu erwarten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich die Einsatzgebiete, etwa von Industriemechanikern, Maschinen- und Anlagenführerinnen, Elektronikern, Chemielaborantinnen oder Fachinformatikern, verschieben werden, denn viele dieser Qualifikationen spielen bei der Transformation der Energiewirtschaft eine entscheidende Rolle. Dennoch bleibt die Frage, inwieweit der Arbeitsmarkt mit den attraktiven Gehältern der auslaufenden Bergbauindustrie mithalten kann und welche Branchen und Technologiefelder im Mitteldeutschen Revier langfristig für Wertschöpfung sorgen werden.
 

Digitalisierung – selbstverständlich für die heranwachsende Generation

Die Strukturwandeldimension der Digitalisierung zielt auf die Automatisierung und Vernetzung von Arbeits- und Organisationsprozessen. Digitalisierung durchdringt nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche wie Bildung, Politik, Wirtschaft oder Kultur. Bereits heute ersetzen digitale Technologien bestimmte Bereiche menschlicher Arbeit. Damit einher geht der Bedarf an digitalen Kompetenzen in vielen Berufsfeldern sowie die Ausbildung spezifischer Fachkräfte.

Für junge Menschen ist vieles davon bereits Alltag. Sie wachsen in einer zunehmend digitalisierten Welt auf und für sie ist die Nutzung digitaler Technologien eine Selbstverständlichkeit. Beim Berufseinstieg sehen sie sich weniger mit einer digitalen Transformation der Berufswelt oder diesbezüglichem Weiterbildungsbedarf konfrontiert, sondern lernen von Anfang an aktuelle Inhalte und Ausrichtungen der jeweiligen Berufsbilder kennen.

Doch die Digitalisierung hat ganz praktische Auswirkungen auf die Berufswahl und die berufliche Bildung. So können Online-Angebote zielgerichtet Informationen und Unterstützung im Berufswahlprozess vermitteln. Auch die Erfahrungen aus der Corona-Pandemie haben gezeigt, dass Lernen und Arbeiten nicht nur in Präsenz stattfinden muss. Besonders im ländlichen Raum könnte die Attraktivität von Ausbildungsplätzen zunehmen, wenn sich weite Wege (beispielsweise zur Berufsschule) durch den Einsatz digitaler Formate an geeigneten Stellen vermeiden lassen. In ähnlicher Weise erweitert die Möglichkeit des mobilen Arbeitens die Auswahl potenzieller späterer Arbeitgeber.
 

Demografischer Wandel – das Werben um die Auszubildenden 

Den stärksten Einfluss auf die berufliche Orientierung junger Menschen hat jedoch der demografische Wandel. Bis 2035 gehen in Deutschland sieben Millionen Arbeitskräfte verloren, 500.000 davon in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Der Ausbildungsmarkt hat sich bereits heute von einem Nachfrage- zu einem Angebotsmarkt entwickelt. Auch die jungen Menschen spüren den Fachkräftemangel und wie sie umworben werden. Sie gehen daher entspannter mit der Ausbildungsplatzsuche um. Dies zeigt sich u. a. an der Gewichtung von Berufswahlfaktoren, etwa wenn Berufseinsteigerinnen und Berufseinsteiger das Interesse am Beruf oder ein gutes Arbeitsklima als wichtiger bewerten als die Krisensicherheit des Berufs oder die Höhe des Gehalts nach der Ausbildung. Auch Aspekte wie Nachhaltigkeit des Arbeitgebers oder Work-Life-Balance spielen inzwischen eine stärkere Rolle bei der Berufswahl.

Seitens der Arbeitgeber benötigt es heute deutlich mehr Engagement beim Werben um ihre Auszubildenden. 
 

Justierungen beruflicher Orientierungsangebote

Expertinnen und Experten aus dem Arbeitsfeld der beruflichen Orientierung teilen die Einschätzung, dass es vor dem Hintergrund der aufgezeigten Herausforderungen keine zusätzlichen Berufsorientierungsangebote braucht, sondern qualitative Verbesserungen der bestehenden. Dabei geht es u. a. um erlebnisorientierte Kennenlernangebote seitens der Arbeitgeber, Ansprache junger Menschen in den von ihnen genutzten Kommunikationskanälen oder abwechslungsreiche und gut begleitete Praktika, die echtes Engagement fördern. Zudem sollte man sich mit den Ansprüchen der heranwachsenden Generation beschäftigen, denn die Ausbildungsplätze füllen sich nicht mehr von allein. Bei der Ausbildungs- und Berufswahl im ländlichen Raum spielen Fragen der Mobilität (ÖPNV) sowie digitaler Lern- und Arbeitsformate eine ernstzunehmende Rolle.

Und auch bei der Suche und Auswahl geeigneter Berufsorientierungsangebote benötigen junge Menschen Unterstützung. Während das Thema Berufsorientierung in den Sekundarschulen strukturiert begleitet wird (z. B. durch Praxisberatung in den Schulen), sind Gymnasiastinnen und Gymnasiasten, von denen sich etwa ein Viertel für eine Ausbildung entscheidet, stärker auf sich allein gestellt.

Wichtig bei der Justierung der Berufsorientierungslandschaft ist die Koordination der beteiligten Akteure und Formate (Regionalkoordination, Jugendberufsagenturen, Praxisberatung, Kammern, Angebote der Bundesagentur für Arbeit, Arbeitskreis Schule – Wirtschaft, Berufswahlpass, Berufswahl-Siegel), um die jeweiligen Angebote entsprechend aufeinander abzustimmen.
 

Vertiefende Analysen in den kommenden Monaten

Die in diesem Beitrag andiskutierten Befunde stammen u. a. aus Expertengesprächen der BiSMit-Studie „Berufliche Orientierung im Strukturwandel“. Erste Ergebnisse aus diesen Gesprächen werden am 8. November im Rahmen der Online-Veranstaltung „Bildung im Strukturwandel: Fokus Übergang Schule – Beruf“ mit Fachkräften sowie Koordinatorinnen und Koordinatoren aus dem Arbeitsfeld der beruflichen Orientierung diskutiert. Das Gesamtergebnis wird im Laufe des Jahres 2024 in einem Bericht publiziert.

 

Ansprechpartner

Dr. Tom Hoyer

Tel.: 0341-993923 24 E-Mail: hoyer@dji.de