Wandel ≠ Bruch. Eine ostdeutsche Perspektive auf Strukturwandel

Die Erfahrungen der Nachwendejahre haben die Menschen im Osten der Republik geprägt. Aufbruch und Freiheit hier. Abwanderung und wirtschaftlicher Bedeutungsverlust da. Diese Erfahrungen sollten, so unser Plädoyer, in den aktuellen Überlegungen zum Strukturwandel infolge des Braunkohleausstiegs berücksichtigt werden.

Altes und Neues

Die Stadt Zeitz liegt mitten im Revier. Sie ist ein Zentrum des Strukturwandels. Zu DDR-Zeiten fertigte der VEB ZEMAG in Zeitz für das Kombinat TAKRAF (Tagebau-Austrüstungen, Krane und Förderanlagen) Bagger und Krane. Heute befindet sich beispielsweise die Stabsstelle für Strukturwandel, Digitalisierung und Regionalplanung in Zeitz.

Foto: Stefan Haunstein

Wendeerfahrungen

Vielen Menschen der neuen Bundesländer sind die Erinnerungen an die Wendezeit noch präsent. Sie gingen auf die Straße für Freiheit und ein besseres Leben. Die „Friedliche Revolution“ ist in die Geschichtsbücher eingegangen. Sie war eine beispiellose gesellschaftliche Leistung, die eindrücklich gezeigt hat, was Menschen mit Vision, starker Stimme und gemeinsamem Willen gewaltfrei bewegen können.

Nur wenige Jahre später machte sich Ernüchterung breit. Zahllose Betriebe mussten schließen, da sie weder als zeitgemäß noch als konkurrenzfähig in der globalisierten Ökonomie angesehen wurden. Anstatt der versprochenen „blühenden Landschaften“ prägten an vielen Orten zunehmend Ruinen und Leerstand das Bild. Wer heute durch altindustrielle Landstriche fährt, sieht immer noch die Folgen des radikalen Strukturbruchs. Einiges, was der Strukturbruch infolge der Wende mit sich brachte, ist jedoch weniger sichtbar, sondern in den Köpfen der Menschen verankert. Arbeiterinnen und Arbeiter mussten erleben, wie ihre beruflichen Qualifikationen in der neuen Welt nicht mehr gefragt waren. Für viele war der Strukturbruch gleichbedeutend mit einem biografischen Bruch. Lebensleistungen wurden infrage gestellt. Entwertungserfahrungen und Frustration fanden zueinander.

Sorge vor erneutem Strukturbruch

Mittlerweile sind mehr als 30 Jahre seit dem Fall der Mauer vergangen. Viele Wunden dieses Strukturbruchs sind noch nicht vollständig verheilt, da bahnen sich erneut gravierende Veränderungen an. So hat die Bundesregierung den Ausstieg aus der Braunkohlewirtschaft bis 2038 beschlossen. Damit stehen die beiden Braunkohlereviere in den neuen Ländern, also das Mitteldeutsche und das Lausitzer Revier, erneut vor großen Herausforderungen. Freilich ist die gesellschaftliche wie auch wirtschaftliche Tragweite nicht mit der Wiedervereinigung vergleichbar. Dennoch wird das Aus der Braunkohlewirtschaft immense Belastungen für einige Kommunen mit sich bringen.

Hervorzuheben ist nämlich, dass die vom Braunkohleausstieg besonders betroffenen Kommunen bereits nach der Wiedervereinigung stark gebeutelt wurden. Im Mitteldeutschen Revier betrifft dies etwa den Burgenlandkreis und den Landkreis Mansfeld-Südharz. Beide haben seit der Wende ca. ein Drittel an Bevölkerung verloren und mussten den weitreichenden Verlust ihrer industriellen Basis verkraften. Die Arbeitslosenquote liegt bis heute deutlich über dem Bundesschnitt. Der Braunkohleausstieg, so die Befürchtung, könnte die Situation in den kommenden Jahren weiter verschärfen. In den Kommunen herrscht große Sorge, dass ein ersatzloser Abbau gut bezahlter Industriearbeitsplätze die Abwanderungstendenzen noch verstärkt. Viele fürchten, dass sich die gravierenden Erschütterungen der Nachwendezeit nun wiederholen könnten.

Wandel als gestaltbarer Prozess

Auch wenn diese Befürchtungen ernst genommen werden sollten, gibt es gute Argumente, die die Sorgen entkräften. Zwei wesentliche Unterschiede sind hervorzuheben. Der erste ist der Faktor Zeit. Die Wiedervereinigung brachte einen radikalen Bruch, der ausnahmslos alle Bereiche der Gesellschaft erfasste. Beim Strukturwandel infolge des Braunkohleausstiegs handelt es sich hingegen um einen Prozess, der sich über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten erstreckt. Die betroffenen Regionen haben Vorlaufzeit. Sie können sich frühzeitig mit den sich ändernden Bedingungen auseinandersetzen und die Weichen für die Zukunft stellen.

Der zweite wesentliche Unterschied besteht darin, dass die Belange der Menschen vor Ort aktuell stärker Gehör finden. So jedenfalls lautet das Versprechen. Der Bund hat im Zuge seiner Strukturförderung die Grundlagen gelegt, dass die Länder und die Kommunen ihre Anliegen direkt einbringen können. Hier gibt es bereits gute Ansätze. In den Revierkommunen Sachsen-Anhalts wurden Anfang 2021 Online-Bürgerdialoge durchgeführt, um die Wünsche der Bewohnerinnen und Bewohner einzufangen und Ängste zu nehmen. Hierfür stand unter anderem Ministerpräsident Reiner Haseloff Rede und Antwort. Ein Plädoyer in diesen Bürgerdialogen lautete, dass zuallererst in die Köpfe und Ideen der Menschen vor Ort investiert werden sollte. Unbestritten ist, dass für einen erfolgreichen Strukturwandel die Grundlagen zu Neuansiedlungen zukunftsträchtiger Unternehmen gelegt werden müssen. Vor allem sollten aber auch bereits bestehende Wirtschaftsstrukturen sowie langjährig etablierte Vereine und Initiativen aus der Bürgerschaft nachhaltig gestärkt und fit für die Zukunft gemacht werden.

Stabilität im Wandel

Wandel, Innovation und Transformation sind Begriffe, die im politischen Sprachgebrauch gegenwärtig Hochkonjunktur haben – so auch in den jüngsten Debatten zum Braunkohleausstieg. Es müsse darum gehen, so der allgemeine Tenor, ausgetretene Pfade zu verlassen und neue Wege zu beschreiten. So charmant diese Ausrichtung auf Neues, auf Veränderung auch sein mag, so führt sie doch an den Lebenswelten vieler Menschen vorbei. Gerade in den neuen Ländern teilen viele nach den zum Teil schmerzhaften Umbrucherfahrungen der Nachwendezeit ein Interesse an Stabilität und Kontinuität. Veränderung ist für sie nicht gleichbedeutend mit Verbesserung. Das Gegenteil ist der Fall: Sie fürchten eine Verschlechterung ihrer Lebenslage. Dies gilt es, in den aktuellen Debatten zum Strukturwandel zu berücksichtigen. Die Betonung sollte nicht nur auf Wandel liegen, sondern vor allem auf Struktur. Danach sehnen sich viele Menschen in den Braunkohlerevieren nämlich; eine Struktur, die ihnen Halt und Verlässlichkeit für ihre weitere Lebensführung gibt. Die (anspruchsvolle) Aufgabe der Politik lautet also: Wandel gestalten, um den Menschen Stabilität zu geben.